Das zweite Leben der Dinge
Während die Baubranche noch immer am Mantra des Neubaus festhält, geht Jonathan Tuckey einen anderen Weg – und das seit 25 Jahren. Der britische Designer hat sich auf die Transformation bestehender Bauten spezialisiert. Seine Entwürfe sind keine Rekonstruktionen, sondern mutige Neuinterpretationen. Sie zeigen: Nachhaltigkeit beginnt nicht mit dem Abriss, sondern mit der Wertschätzung des Vorhandenen. Im Gespräch erklärt Jonathan Tuckey, warum alte Häuser oft die besseren Geschichten erzählen, weshalb Wiederverwendung kein Kompromiss ist – und welche Rolle dabei ein Stück Asbestfassade spielen kann.
von Christian Greder (Interview)
Warum reizt Sie die Arbeit mit bestehenden Gebäuden mehr als der Neubau?
Bestehende Gebäude tragen eine Geschichte in sich – sie sind voller Charakter, voller Spuren ihrer früheren Nutzung. Es macht Freude, diese Spuren freizulegen, Überraschungen zu entdecken und Lösungen zu entwickeln, wie man aus etwas Verfallenem wieder etwas Zeitgemässes und Schönes machen kann. Das ist für mich viel mehr als Bauen – es ist eine Form des Placemaking. Natürlich bauen wir auch neu, zum Beispiel gerade ein Stampflehmhaus in England. Aber mein Büro habe ich mit dem Fokus auf bestehende Bauten gegründet, zu einer Zeit, als das in der Branche noch sehr ungewöhnlich war. Ich selbst habe ursprünglich nicht Architektur studiert – ich kam nie mit einem weissen Blatt Papier, sondern immer mit einem bereits beschriebenen. Vielleicht kommt daher mein Zugang. Heute ist das Thema Wiederverwendung und Transformation glücklicherweise in der Mitte der Architektur angekommen.
Wie berücksichtigen Sie die emotionale, soziale und kulturelle Bedeutung eines bestehenden Gebäudes?
Indem wir es nicht abreissen. Allein das signalisiert Respekt gegenüber dem Ort, gegenüber früheren Bewohner:innen, gegenüber der Geschichte. Wir versuchen nicht, das Alte zu übertönen, sondern es durch zeitgenössische Architektur zu rahmen. Dabei nehmen wir oft auf die lokale Bautradition Bezug – was manchmal bedeutet, gewisse Schrulligkeiten zu erhalten und sogar zu betonen.
Mit welchen Herausforderungen haben Sie dabei regelmässig zu kämpfen – technisch wie gestalterisch?
Die Herausforderungen sind sehr unterschiedlich, je nach Kontext. Wir arbeiten unter anderem in der Schweiz, in Grossbritannien, in Norwegen, Italien oder Deutschland – das bedeutet jeweils andere Materialien, andere Genehmigungsverfahren, andere klimatische Bedingungen. Aber gerade das macht den Reiz aus. Ein Projekt auf einer norwegischen Insel nördlich des Polarkreises ist natürlich ganz anders als eine Umnutzung in Berlin-Mitte.
Wie bringen Sie energetische Anforderungen und Barrierefreiheit mit dem Charakter des Bestands zusammen?
Es geht darum, die Hülle zu verbessern, ohne das Wesen zu verlieren. Ein schönes Beispiel ist ein Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert in England: Dort haben wir eine Innendämmung aus Diathonit – einer Mischung aus Kalk und Kork – verwendet. Das Material ist flexibel genug, um die unregelmässige Oberfläche der Natursteinwand aufzunehmen. So bleibt die Geschichte sichtbar, auch wenn sie energetisch aufgewertet wurde.
Welche Rolle spielt die Materialwahl für Ihre Nachhaltigkeitsstrategie?
Eine zentrale. Wir versuchen, lokal zu denken: Das reduziert Transportemissionen und verbindet das Gebäude stärker mit seiner Umgebung. Wenn möglich, verwenden wir sogar Materialien, die wir direkt vor Ort finden. Im Piemont etwa haben wir für einen Fussboden alte Terrakottaziegel und Lehm vom Grundstück selbst verwendet – das ist Nachhaltigkeit in ihrer schönsten Form.
Wie verbessern Sie die Energieeffizienz trotz struktureller Einschränkungen?
Man muss sich das Gebäude Schicht für Schicht erschliessen, bis man an den Kern gelangt. Dann kann man behutsam dämmen, optimieren – ohne die Geschichte zu verdecken. Selbst eine alte Kirche konnten wir mit Wärmepumpe, Solarpanels und Bodenheizung energetisch auf den neuesten Stand bringen.
Denken Sie Ihre Projekte immer im Sinne eines Lebenszyklus – von Bau bis Rückbau?
Unbedingt. Wir prüfen zu Beginn, was wiederverwendet, recycelt oder rückgebaut werden kann. Neue Bauteile gestalten wir möglichst demontierbar. In unserem Stampflehmhaus in England haben wir komplett auf Zement verzichtet. Das Haus könnte theoretisch wieder zu Erde werden. In einem anderen Projekt sind die Möbel und Einbauten so gestaltet, dass sie sich leicht wieder lösen und anderweitig nutzen lassen.
Was sind Ihre Strategien, um bestehende städtische Strukturen zu verdichten, ohne sie zu überfrachten?
Ein Ansatz sind „Räume in Räumen“: Wenn wir grosse Volumen zonieren, entstehen intime Bereiche, ohne das Volumen zu zerstören. In einem Mews House in London haben wir zum Beispiel würfelförmige Einbauten in den Dachraum gestellt, in denen sich Küche und Schlafzimmer befinden. Die bestehende Dachstruktur bleibt sichtbar. Ein anderer Ansatz ist die Aufwertung gemeinschaftlich genutzter Flächen oder das Umdenken von Restflächen.
Können Sie ein Beispiel nennen, das für gelungene städtische Verdichtung steht?
Das Michelberger Hotel in Berlin. Ursprünglich war das Gebäude eine alte Zigarettenfabrik. Wir haben es so umgebaut, dass daraus ein lebendiges Boutiquehotel wurde. Der Umbau war nicht nur funktional, sondern auch ein Impuls für das ganze Quartier – heute gibt es dort Restaurants, Läden und neue Wohnangebote. Verdichtung kann also auch sozial und wirtschaftlich wirksam sein.
Wie gelingt Ihnen der Balanceakt zwischen historischer Substanz und zeitgenössischer Architektur?
Indem wir das Bestehende genau studieren und versuchen, es nicht zu bewerten, sondern zu verstehen. Dann entwerfen wir Interventionen, die mit dem Alten kommunizieren – manchmal kontrastierend, manchmal ergänzend. Die Harmonie zwischen Alt und Neu entsteht, wenn beides auf Augenhöhe miteinander existieren darf.
Was meinen Sie mit „eleganter Aneignung“?
Das heisst für uns: etwas scheinbar Unscheinbares so in Szene zu setzen, dass es plötzlich Bedeutung bekommt. In einem Ski-Lodge-Projekt in der Schweiz wollten alle die braunen Asbestplatten loswerden. Wir haben sie belassen und stattdessen mit farbigen Fensterläden gearbeitet – heute sieht niemand mehr die alten Platten. Manchmal reicht ein Perspektivwechsel.
Welchen Einfluss hat das urbane bzw. ländliche Umfeld auf Ihre Entwurfsentscheidungen?
Im urbanen Raum arbeiten wir oft collageartig, nehmen Bezug auf benachbarte Materialien und Strukturen. Im ländlichen Raum ist es meist direkter: Dort verwenden wir, was die Umgebung hergibt – Stroh, Kork, Stampflehm. Die Einfachheit der Materialien bringt oft eine besondere Tiefe ins Projekt.
Wie stark binden Sie Nutzer:innen oder lokale Community ein?
Das hängt vom Projekt ab. In einem Stadterneuerungsprojekt in der Nähe von London haben wir intensiv mit der Bevölkerung gesprochen – das hat enorm geholfen, Bedürfnisse besser zu verstehen. Zudem bieten wir jährlich pro bono Architekturleistungen für soziale Einrichtungen an – zuletzt für die Renovierung einer Schulbibliothek in Nordlondon.
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, was bewahrt, verändert oder entfernt wird?
Das hängt ganz vom Gebäude ab. In einem denkmalgeschützten Haus in Andermatt war nur ein Teil der Originalsubstanz erhaltenswert – der Rest wurde entfernt, um Platz für das Neue zu schaffen. In einem anderen Projekt in Somerset war die Geschichte der Transformation genauso wichtig wie die Bausubstanz selbst. Und manchmal wird aus einem alten Dachbalken eben ein neues Möbelstück.
Welche Trends sehen Sie im Bereich des Weiterbauens?
Adaptive Reuse wird zum Standard. Wir arbeiten gerade mit einem Materialinventar – das wird sicher zur Norm. Ausserdem erwarten wir, dass demontierbare Bauweisen mehr Gewicht bekommen. Und: Die Zeit der 1970er- und 1980er-Jahre-Bauten kommt. Sie sind heute noch unterschätzt, werden aber bald als Ressource erkannt werden.
Welche Verantwortung trägt Architektur im Kontext des Klimawandels?
Eine sehr grosse. Die Baubranche ist für einen erheblichen Teil der Emissionen verantwortlich. Wir müssen zeigen, dass Nachhaltigkeit nicht Verzicht bedeutet, sondern auch Schönheit und Innovation.
Wie kann Architektur zu lebenswerten Städten beitragen?
Architektur prägt unser tägliches Erleben. Wenn wir mutig denken, können auch verlassene Orte zu lebendigen Quartieren werden – wie in King’s Cross, wo wir alte Gasometer zu Wohnungen gemacht haben. Es braucht Vision, aber auch die Bereitschaft, Bestehendes neu zu denken.
Was treibt Sie persönlich an, so konsequent auf Nachhaltigkeit, Wiederverwendung und Verdichtung zu setzen?
Ich finde es faszinierend, wie viele kleine, bewusste Entscheidungen zu etwas Grösserem führen können – zu einem Gebäude, das Geschichte erzählt und zugleich in die Zukunft weist.
Warum haben Sie ein Büro in der Schweiz eröffnet?
Wir arbeiten seit über zehn Jahren in der Region. Mit Projekten in Andermatt, dem Piemont, am Comersee oder in den österreichischen Alpen war es naheliegend, ein zweites Standbein aufzubauen. Es erlaubt uns, näher dran zu sein – und die Qualität unserer Arbeit weiter zu verbessern.
Welche Rolle spielt dabei das Bauen in den Alpen?
Die Alpen sind wunderschön – und gleichzeitig ein Ort, an dem die Klimakrise besonders sichtbar ist. Dort wird einem bewusst, dass Architektur nicht nur ästhetisch sein darf, sondern auch Verantwortung übernehmen muss. Wir wollen dazu beitragen, dass diese Landschaft nicht weiter leidet, sondern in ihrer Eigenart erhalten bleibt.
Tuckey Design Studio
Tuckey Design Studio ist ein international renommiertes Architekturbüro mit Sitz in London und einer Zweigstelle in Andermatt. Gegründet 1999 von Jonathan Tuckey, hat sich das Studio auf die kreative Umnutzung bestehender Gebäude spezialisiert. Mit einem tiefen Verständnis für die kulturellen, sozialen und emotionalen Verbindungen, die Menschen mit Bauwerken eingehen, transformiert das Team historische Strukturen durch sensible, zeitgemässe Eingriffe in nachhaltige Lebensräume .
tuckeydesign.ch
Das zweite Leben der Dinge
Während die Baubranche noch immer am Mantra des Neubaus festhält, geht Jonathan Tuckey einen anderen Weg – und das seit 25 Jahren. Der britische Designer hat sich auf die Transformation bestehender Bauten spezialisiert. Seine Entwürfe sind keine Rekonstruktionen, sondern mutige Neuinterpretationen. Sie zeigen: Nachhaltigkeit beginnt nicht mit dem Abriss, sondern mit der Wertschätzung des Vorhandenen. Im Gespräch erklärt Jonathan Tuckey, warum alte Häuser oft die besseren Geschichten erzählen, weshalb Wiederverwendung kein Kompromiss ist – und welche Rolle dabei ein Stück Asbestfassade spielen kann.
von Christian Greder (Interview)
Warum reizt Sie die Arbeit mit bestehenden Gebäuden mehr als der Neubau?
Bestehende Gebäude tragen eine Geschichte in sich – sie sind voller Charakter, voller Spuren ihrer früheren Nutzung. Es macht Freude, diese Spuren freizulegen, Überraschungen zu entdecken und Lösungen zu entwickeln, wie man aus etwas Verfallenem wieder etwas Zeitgemässes und Schönes machen kann. Das ist für mich viel mehr als Bauen – es ist eine Form des Placemaking. Natürlich bauen wir auch neu, zum Beispiel gerade ein Stampflehmhaus in England. Aber mein Büro habe ich mit dem Fokus auf bestehende Bauten gegründet, zu einer Zeit, als das in der Branche noch sehr ungewöhnlich war. Ich selbst habe ursprünglich nicht Architektur studiert – ich kam nie mit einem weissen Blatt Papier, sondern immer mit einem bereits beschriebenen. Vielleicht kommt daher mein Zugang. Heute ist das Thema Wiederverwendung und Transformation glücklicherweise in der Mitte der Architektur angekommen.
Wie berücksichtigen Sie die emotionale, soziale und kulturelle Bedeutung eines bestehenden Gebäudes?
Indem wir es nicht abreissen. Allein das signalisiert Respekt gegenüber dem Ort, gegenüber früheren Bewohner:innen, gegenüber der Geschichte. Wir versuchen nicht, das Alte zu übertönen, sondern es durch zeitgenössische Architektur zu rahmen. Dabei nehmen wir oft auf die lokale Bautradition Bezug – was manchmal bedeutet, gewisse Schrulligkeiten zu erhalten und sogar zu betonen.
Mit welchen Herausforderungen haben Sie dabei regelmässig zu kämpfen – technisch wie gestalterisch?
Die Herausforderungen sind sehr unterschiedlich, je nach Kontext. Wir arbeiten unter anderem in der Schweiz, in Grossbritannien, in Norwegen, Italien oder Deutschland – das bedeutet jeweils andere Materialien, andere Genehmigungsverfahren, andere klimatische Bedingungen. Aber gerade das macht den Reiz aus. Ein Projekt auf einer norwegischen Insel nördlich des Polarkreises ist natürlich ganz anders als eine Umnutzung in Berlin-Mitte.
Wie bringen Sie energetische Anforderungen und Barrierefreiheit mit dem Charakter des Bestands zusammen?
Es geht darum, die Hülle zu verbessern, ohne das Wesen zu verlieren. Ein schönes Beispiel ist ein Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert in England: Dort haben wir eine Innendämmung aus Diathonit – einer Mischung aus Kalk und Kork – verwendet. Das Material ist flexibel genug, um die unregelmässige Oberfläche der Natursteinwand aufzunehmen. So bleibt die Geschichte sichtbar, auch wenn sie energetisch aufgewertet wurde.
Welche Rolle spielt die Materialwahl für Ihre Nachhaltigkeitsstrategie?
Eine zentrale. Wir versuchen, lokal zu denken: Das reduziert Transportemissionen und verbindet das Gebäude stärker mit seiner Umgebung. Wenn möglich, verwenden wir sogar Materialien, die wir direkt vor Ort finden. Im Piemont etwa haben wir für einen Fussboden alte Terrakottaziegel und Lehm vom Grundstück selbst verwendet – das ist Nachhaltigkeit in ihrer schönsten Form.
Wie verbessern Sie die Energieeffizienz trotz struktureller Einschränkungen?
Man muss sich das Gebäude Schicht für Schicht erschliessen, bis man an den Kern gelangt. Dann kann man behutsam dämmen, optimieren – ohne die Geschichte zu verdecken. Selbst eine alte Kirche konnten wir mit Wärmepumpe, Solarpanels und Bodenheizung energetisch auf den neuesten Stand bringen.
Denken Sie Ihre Projekte immer im Sinne eines Lebenszyklus – von Bau bis Rückbau?
Unbedingt. Wir prüfen zu Beginn, was wiederverwendet, recycelt oder rückgebaut werden kann. Neue Bauteile gestalten wir möglichst demontierbar. In unserem Stampflehmhaus in England haben wir komplett auf Zement verzichtet. Das Haus könnte theoretisch wieder zu Erde werden. In einem anderen Projekt sind die Möbel und Einbauten so gestaltet, dass sie sich leicht wieder lösen und anderweitig nutzen lassen.
Was sind Ihre Strategien, um bestehende städtische Strukturen zu verdichten, ohne sie zu überfrachten?
Ein Ansatz sind „Räume in Räumen“: Wenn wir grosse Volumen zonieren, entstehen intime Bereiche, ohne das Volumen zu zerstören. In einem Mews House in London haben wir zum Beispiel würfelförmige Einbauten in den Dachraum gestellt, in denen sich Küche und Schlafzimmer befinden. Die bestehende Dachstruktur bleibt sichtbar. Ein anderer Ansatz ist die Aufwertung gemeinschaftlich genutzter Flächen oder das Umdenken von Restflächen.
Können Sie ein Beispiel nennen, das für gelungene städtische Verdichtung steht?
Das Michelberger Hotel in Berlin. Ursprünglich war das Gebäude eine alte Zigarettenfabrik. Wir haben es so umgebaut, dass daraus ein lebendiges Boutiquehotel wurde. Der Umbau war nicht nur funktional, sondern auch ein Impuls für das ganze Quartier – heute gibt es dort Restaurants, Läden und neue Wohnangebote. Verdichtung kann also auch sozial und wirtschaftlich wirksam sein.
Wie gelingt Ihnen der Balanceakt zwischen historischer Substanz und zeitgenössischer Architektur?
Indem wir das Bestehende genau studieren und versuchen, es nicht zu bewerten, sondern zu verstehen. Dann entwerfen wir Interventionen, die mit dem Alten kommunizieren – manchmal kontrastierend, manchmal ergänzend. Die Harmonie zwischen Alt und Neu entsteht, wenn beides auf Augenhöhe miteinander existieren darf.
Was meinen Sie mit „eleganter Aneignung“?
Das heisst für uns: etwas scheinbar Unscheinbares so in Szene zu setzen, dass es plötzlich Bedeutung bekommt. In einem Ski-Lodge-Projekt in der Schweiz wollten alle die braunen Asbestplatten loswerden. Wir haben sie belassen und stattdessen mit farbigen Fensterläden gearbeitet – heute sieht niemand mehr die alten Platten. Manchmal reicht ein Perspektivwechsel.
Welchen Einfluss hat das urbane bzw. ländliche Umfeld auf Ihre Entwurfsentscheidungen?
Im urbanen Raum arbeiten wir oft collageartig, nehmen Bezug auf benachbarte Materialien und Strukturen. Im ländlichen Raum ist es meist direkter: Dort verwenden wir, was die Umgebung hergibt – Stroh, Kork, Stampflehm. Die Einfachheit der Materialien bringt oft eine besondere Tiefe ins Projekt.
Wie stark binden Sie Nutzer:innen oder lokale Community ein?
Das hängt vom Projekt ab. In einem Stadterneuerungsprojekt in der Nähe von London haben wir intensiv mit der Bevölkerung gesprochen – das hat enorm geholfen, Bedürfnisse besser zu verstehen. Zudem bieten wir jährlich pro bono Architekturleistungen für soziale Einrichtungen an – zuletzt für die Renovierung einer Schulbibliothek in Nordlondon.
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, was bewahrt, verändert oder entfernt wird?
Das hängt ganz vom Gebäude ab. In einem denkmalgeschützten Haus in Andermatt war nur ein Teil der Originalsubstanz erhaltenswert – der Rest wurde entfernt, um Platz für das Neue zu schaffen. In einem anderen Projekt in Somerset war die Geschichte der Transformation genauso wichtig wie die Bausubstanz selbst. Und manchmal wird aus einem alten Dachbalken eben ein neues Möbelstück.
Welche Trends sehen Sie im Bereich des Weiterbauens?
Adaptive Reuse wird zum Standard. Wir arbeiten gerade mit einem Materialinventar – das wird sicher zur Norm. Ausserdem erwarten wir, dass demontierbare Bauweisen mehr Gewicht bekommen. Und: Die Zeit der 1970er- und 1980er-Jahre-Bauten kommt. Sie sind heute noch unterschätzt, werden aber bald als Ressource erkannt werden.
Welche Verantwortung trägt Architektur im Kontext des Klimawandels?
Eine sehr grosse. Die Baubranche ist für einen erheblichen Teil der Emissionen verantwortlich. Wir müssen zeigen, dass Nachhaltigkeit nicht Verzicht bedeutet, sondern auch Schönheit und Innovation.
Wie kann Architektur zu lebenswerten Städten beitragen?
Architektur prägt unser tägliches Erleben. Wenn wir mutig denken, können auch verlassene Orte zu lebendigen Quartieren werden – wie in King’s Cross, wo wir alte Gasometer zu Wohnungen gemacht haben. Es braucht Vision, aber auch die Bereitschaft, Bestehendes neu zu denken.
Was treibt Sie persönlich an, so konsequent auf Nachhaltigkeit, Wiederverwendung und Verdichtung zu setzen?
Ich finde es faszinierend, wie viele kleine, bewusste Entscheidungen zu etwas Grösserem führen können – zu einem Gebäude, das Geschichte erzählt und zugleich in die Zukunft weist.
Warum haben Sie ein Büro in der Schweiz eröffnet?
Wir arbeiten seit über zehn Jahren in der Region. Mit Projekten in Andermatt, dem Piemont, am Comersee oder in den österreichischen Alpen war es naheliegend, ein zweites Standbein aufzubauen. Es erlaubt uns, näher dran zu sein – und die Qualität unserer Arbeit weiter zu verbessern.
Welche Rolle spielt dabei das Bauen in den Alpen?
Die Alpen sind wunderschön – und gleichzeitig ein Ort, an dem die Klimakrise besonders sichtbar ist. Dort wird einem bewusst, dass Architektur nicht nur ästhetisch sein darf, sondern auch Verantwortung übernehmen muss. Wir wollen dazu beitragen, dass diese Landschaft nicht weiter leidet, sondern in ihrer Eigenart erhalten bleibt.
Tuckey Design Studio
Tuckey Design Studio ist ein international renommiertes Architekturbüro mit Sitz in London und einer Zweigstelle in Andermatt. Gegründet 1999 von Jonathan Tuckey, hat sich das Studio auf die kreative Umnutzung bestehender Gebäude spezialisiert. Mit einem tiefen Verständnis für die kulturellen, sozialen und emotionalen Verbindungen, die Menschen mit Bauwerken eingehen, transformiert das Team historische Strukturen durch sensible, zeitgemässe Eingriffe in nachhaltige Lebensräume .
tuckeydesign.ch
Das zweite Leben der Dinge
Während die Baubranche noch immer am Mantra des Neubaus festhält, geht Jonathan Tuckey einen anderen Weg – und das seit 25 Jahren. Der britische Designer hat sich auf die Transformation bestehender Bauten spezialisiert. Seine Entwürfe sind keine Rekonstruktionen, sondern mutige Neuinterpretationen. Sie zeigen: Nachhaltigkeit beginnt nicht mit dem Abriss, sondern mit der Wertschätzung des Vorhandenen. Im Gespräch erklärt Jonathan Tuckey, warum alte Häuser oft die besseren Geschichten erzählen, weshalb Wiederverwendung kein Kompromiss ist – und welche Rolle dabei ein Stück Asbestfassade spielen kann.
von Christian Greder (Interview)
Warum reizt Sie die Arbeit mit bestehenden Gebäuden mehr als der Neubau?
Bestehende Gebäude tragen eine Geschichte in sich – sie sind voller Charakter, voller Spuren ihrer früheren Nutzung. Es macht Freude, diese Spuren freizulegen, Überraschungen zu entdecken und Lösungen zu entwickeln, wie man aus etwas Verfallenem wieder etwas Zeitgemässes und Schönes machen kann. Das ist für mich viel mehr als Bauen – es ist eine Form des Placemaking. Natürlich bauen wir auch neu, zum Beispiel gerade ein Stampflehmhaus in England. Aber mein Büro habe ich mit dem Fokus auf bestehende Bauten gegründet, zu einer Zeit, als das in der Branche noch sehr ungewöhnlich war. Ich selbst habe ursprünglich nicht Architektur studiert – ich kam nie mit einem weissen Blatt Papier, sondern immer mit einem bereits beschriebenen. Vielleicht kommt daher mein Zugang. Heute ist das Thema Wiederverwendung und Transformation glücklicherweise in der Mitte der Architektur angekommen.
Wie berücksichtigen Sie die emotionale, soziale und kulturelle Bedeutung eines bestehenden Gebäudes?
Indem wir es nicht abreissen. Allein das signalisiert Respekt gegenüber dem Ort, gegenüber früheren Bewohner:innen, gegenüber der Geschichte. Wir versuchen nicht, das Alte zu übertönen, sondern es durch zeitgenössische Architektur zu rahmen. Dabei nehmen wir oft auf die lokale Bautradition Bezug – was manchmal bedeutet, gewisse Schrulligkeiten zu erhalten und sogar zu betonen.
Mit welchen Herausforderungen haben Sie dabei regelmässig zu kämpfen – technisch wie gestalterisch?
Die Herausforderungen sind sehr unterschiedlich, je nach Kontext. Wir arbeiten unter anderem in der Schweiz, in Grossbritannien, in Norwegen, Italien oder Deutschland – das bedeutet jeweils andere Materialien, andere Genehmigungsverfahren, andere klimatische Bedingungen. Aber gerade das macht den Reiz aus. Ein Projekt auf einer norwegischen Insel nördlich des Polarkreises ist natürlich ganz anders als eine Umnutzung in Berlin-Mitte.
Wie bringen Sie energetische Anforderungen und Barrierefreiheit mit dem Charakter des Bestands zusammen?
Es geht darum, die Hülle zu verbessern, ohne das Wesen zu verlieren. Ein schönes Beispiel ist ein Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert in England: Dort haben wir eine Innendämmung aus Diathonit – einer Mischung aus Kalk und Kork – verwendet. Das Material ist flexibel genug, um die unregelmässige Oberfläche der Natursteinwand aufzunehmen. So bleibt die Geschichte sichtbar, auch wenn sie energetisch aufgewertet wurde.
Welche Rolle spielt die Materialwahl für Ihre Nachhaltigkeitsstrategie?
Eine zentrale. Wir versuchen, lokal zu denken: Das reduziert Transportemissionen und verbindet das Gebäude stärker mit seiner Umgebung. Wenn möglich, verwenden wir sogar Materialien, die wir direkt vor Ort finden. Im Piemont etwa haben wir für einen Fussboden alte Terrakottaziegel und Lehm vom Grundstück selbst verwendet – das ist Nachhaltigkeit in ihrer schönsten Form.
Wie verbessern Sie die Energieeffizienz trotz struktureller Einschränkungen?
Man muss sich das Gebäude Schicht für Schicht erschliessen, bis man an den Kern gelangt. Dann kann man behutsam dämmen, optimieren – ohne die Geschichte zu verdecken. Selbst eine alte Kirche konnten wir mit Wärmepumpe, Solarpanels und Bodenheizung energetisch auf den neuesten Stand bringen.
Denken Sie Ihre Projekte immer im Sinne eines Lebenszyklus – von Bau bis Rückbau?
Unbedingt. Wir prüfen zu Beginn, was wiederverwendet, recycelt oder rückgebaut werden kann. Neue Bauteile gestalten wir möglichst demontierbar. In unserem Stampflehmhaus in England haben wir komplett auf Zement verzichtet. Das Haus könnte theoretisch wieder zu Erde werden. In einem anderen Projekt sind die Möbel und Einbauten so gestaltet, dass sie sich leicht wieder lösen und anderweitig nutzen lassen.
Was sind Ihre Strategien, um bestehende städtische Strukturen zu verdichten, ohne sie zu überfrachten?
Ein Ansatz sind „Räume in Räumen“: Wenn wir grosse Volumen zonieren, entstehen intime Bereiche, ohne das Volumen zu zerstören. In einem Mews House in London haben wir zum Beispiel würfelförmige Einbauten in den Dachraum gestellt, in denen sich Küche und Schlafzimmer befinden. Die bestehende Dachstruktur bleibt sichtbar. Ein anderer Ansatz ist die Aufwertung gemeinschaftlich genutzter Flächen oder das Umdenken von Restflächen.
Können Sie ein Beispiel nennen, das für gelungene städtische Verdichtung steht?
Das Michelberger Hotel in Berlin. Ursprünglich war das Gebäude eine alte Zigarettenfabrik. Wir haben es so umgebaut, dass daraus ein lebendiges Boutiquehotel wurde. Der Umbau war nicht nur funktional, sondern auch ein Impuls für das ganze Quartier – heute gibt es dort Restaurants, Läden und neue Wohnangebote. Verdichtung kann also auch sozial und wirtschaftlich wirksam sein.
Wie gelingt Ihnen der Balanceakt zwischen historischer Substanz und zeitgenössischer Architektur?
Indem wir das Bestehende genau studieren und versuchen, es nicht zu bewerten, sondern zu verstehen. Dann entwerfen wir Interventionen, die mit dem Alten kommunizieren – manchmal kontrastierend, manchmal ergänzend. Die Harmonie zwischen Alt und Neu entsteht, wenn beides auf Augenhöhe miteinander existieren darf.
Was meinen Sie mit „eleganter Aneignung“?
Das heisst für uns: etwas scheinbar Unscheinbares so in Szene zu setzen, dass es plötzlich Bedeutung bekommt. In einem Ski-Lodge-Projekt in der Schweiz wollten alle die braunen Asbestplatten loswerden. Wir haben sie belassen und stattdessen mit farbigen Fensterläden gearbeitet – heute sieht niemand mehr die alten Platten. Manchmal reicht ein Perspektivwechsel.
Welchen Einfluss hat das urbane bzw. ländliche Umfeld auf Ihre Entwurfsentscheidungen?
Im urbanen Raum arbeiten wir oft collageartig, nehmen Bezug auf benachbarte Materialien und Strukturen. Im ländlichen Raum ist es meist direkter: Dort verwenden wir, was die Umgebung hergibt – Stroh, Kork, Stampflehm. Die Einfachheit der Materialien bringt oft eine besondere Tiefe ins Projekt.
Wie stark binden Sie Nutzer:innen oder lokale Community ein?
Das hängt vom Projekt ab. In einem Stadterneuerungsprojekt in der Nähe von London haben wir intensiv mit der Bevölkerung gesprochen – das hat enorm geholfen, Bedürfnisse besser zu verstehen. Zudem bieten wir jährlich pro bono Architekturleistungen für soziale Einrichtungen an – zuletzt für die Renovierung einer Schulbibliothek in Nordlondon.
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, was bewahrt, verändert oder entfernt wird?
Das hängt ganz vom Gebäude ab. In einem denkmalgeschützten Haus in Andermatt war nur ein Teil der Originalsubstanz erhaltenswert – der Rest wurde entfernt, um Platz für das Neue zu schaffen. In einem anderen Projekt in Somerset war die Geschichte der Transformation genauso wichtig wie die Bausubstanz selbst. Und manchmal wird aus einem alten Dachbalken eben ein neues Möbelstück.
Welche Trends sehen Sie im Bereich des Weiterbauens?
Adaptive Reuse wird zum Standard. Wir arbeiten gerade mit einem Materialinventar – das wird sicher zur Norm. Ausserdem erwarten wir, dass demontierbare Bauweisen mehr Gewicht bekommen. Und: Die Zeit der 1970er- und 1980er-Jahre-Bauten kommt. Sie sind heute noch unterschätzt, werden aber bald als Ressource erkannt werden.
Welche Verantwortung trägt Architektur im Kontext des Klimawandels?
Eine sehr grosse. Die Baubranche ist für einen erheblichen Teil der Emissionen verantwortlich. Wir müssen zeigen, dass Nachhaltigkeit nicht Verzicht bedeutet, sondern auch Schönheit und Innovation.
Wie kann Architektur zu lebenswerten Städten beitragen?
Architektur prägt unser tägliches Erleben. Wenn wir mutig denken, können auch verlassene Orte zu lebendigen Quartieren werden – wie in King’s Cross, wo wir alte Gasometer zu Wohnungen gemacht haben. Es braucht Vision, aber auch die Bereitschaft, Bestehendes neu zu denken.
Was treibt Sie persönlich an, so konsequent auf Nachhaltigkeit, Wiederverwendung und Verdichtung zu setzen?
Ich finde es faszinierend, wie viele kleine, bewusste Entscheidungen zu etwas Grösserem führen können – zu einem Gebäude, das Geschichte erzählt und zugleich in die Zukunft weist.
Warum haben Sie ein Büro in der Schweiz eröffnet?
Wir arbeiten seit über zehn Jahren in der Region. Mit Projekten in Andermatt, dem Piemont, am Comersee oder in den österreichischen Alpen war es naheliegend, ein zweites Standbein aufzubauen. Es erlaubt uns, näher dran zu sein – und die Qualität unserer Arbeit weiter zu verbessern.
Welche Rolle spielt dabei das Bauen in den Alpen?
Die Alpen sind wunderschön – und gleichzeitig ein Ort, an dem die Klimakrise besonders sichtbar ist. Dort wird einem bewusst, dass Architektur nicht nur ästhetisch sein darf, sondern auch Verantwortung übernehmen muss. Wir wollen dazu beitragen, dass diese Landschaft nicht weiter leidet, sondern in ihrer Eigenart erhalten bleibt.
Tuckey Design Studio
Tuckey Design Studio ist ein international renommiertes Architekturbüro mit Sitz in London und einer Zweigstelle in Andermatt. Gegründet 1999 von Jonathan Tuckey, hat sich das Studio auf die kreative Umnutzung bestehender Gebäude spezialisiert. Mit einem tiefen Verständnis für die kulturellen, sozialen und emotionalen Verbindungen, die Menschen mit Bauwerken eingehen, transformiert das Team historische Strukturen durch sensible, zeitgemässe Eingriffe in nachhaltige Lebensräume .
tuckeydesign.ch
Das zweite Leben der Dinge
Während die Baubranche noch immer am Mantra des Neubaus festhält, geht Jonathan Tuckey einen anderen Weg – und das seit 25 Jahren. Der britische Designer hat sich auf die Transformation bestehender Bauten spezialisiert. Seine Entwürfe sind keine Rekonstruktionen, sondern mutige Neuinterpretationen. Sie zeigen: Nachhaltigkeit beginnt nicht mit dem Abriss, sondern mit der Wertschätzung des Vorhandenen. Im Gespräch erklärt Jonathan Tuckey, warum alte Häuser oft die besseren Geschichten erzählen, weshalb Wiederverwendung kein Kompromiss ist – und welche Rolle dabei ein Stück Asbestfassade spielen kann.
von Christian Greder (Interview)
Warum reizt Sie die Arbeit mit bestehenden Gebäuden mehr als der Neubau?
Bestehende Gebäude tragen eine Geschichte in sich – sie sind voller Charakter, voller Spuren ihrer früheren Nutzung. Es macht Freude, diese Spuren freizulegen, Überraschungen zu entdecken und Lösungen zu entwickeln, wie man aus etwas Verfallenem wieder etwas Zeitgemässes und Schönes machen kann. Das ist für mich viel mehr als Bauen – es ist eine Form des Placemaking. Natürlich bauen wir auch neu, zum Beispiel gerade ein Stampflehmhaus in England. Aber mein Büro habe ich mit dem Fokus auf bestehende Bauten gegründet, zu einer Zeit, als das in der Branche noch sehr ungewöhnlich war. Ich selbst habe ursprünglich nicht Architektur studiert – ich kam nie mit einem weissen Blatt Papier, sondern immer mit einem bereits beschriebenen. Vielleicht kommt daher mein Zugang. Heute ist das Thema Wiederverwendung und Transformation glücklicherweise in der Mitte der Architektur angekommen.
Wie berücksichtigen Sie die emotionale, soziale und kulturelle Bedeutung eines bestehenden Gebäudes?
Indem wir es nicht abreissen. Allein das signalisiert Respekt gegenüber dem Ort, gegenüber früheren Bewohner:innen, gegenüber der Geschichte. Wir versuchen nicht, das Alte zu übertönen, sondern es durch zeitgenössische Architektur zu rahmen. Dabei nehmen wir oft auf die lokale Bautradition Bezug – was manchmal bedeutet, gewisse Schrulligkeiten zu erhalten und sogar zu betonen.
Mit welchen Herausforderungen haben Sie dabei regelmässig zu kämpfen – technisch wie gestalterisch?
Die Herausforderungen sind sehr unterschiedlich, je nach Kontext. Wir arbeiten unter anderem in der Schweiz, in Grossbritannien, in Norwegen, Italien oder Deutschland – das bedeutet jeweils andere Materialien, andere Genehmigungsverfahren, andere klimatische Bedingungen. Aber gerade das macht den Reiz aus. Ein Projekt auf einer norwegischen Insel nördlich des Polarkreises ist natürlich ganz anders als eine Umnutzung in Berlin-Mitte.
Wie bringen Sie energetische Anforderungen und Barrierefreiheit mit dem Charakter des Bestands zusammen?
Es geht darum, die Hülle zu verbessern, ohne das Wesen zu verlieren. Ein schönes Beispiel ist ein Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert in England: Dort haben wir eine Innendämmung aus Diathonit – einer Mischung aus Kalk und Kork – verwendet. Das Material ist flexibel genug, um die unregelmässige Oberfläche der Natursteinwand aufzunehmen. So bleibt die Geschichte sichtbar, auch wenn sie energetisch aufgewertet wurde.
Welche Rolle spielt die Materialwahl für Ihre Nachhaltigkeitsstrategie?
Eine zentrale. Wir versuchen, lokal zu denken: Das reduziert Transportemissionen und verbindet das Gebäude stärker mit seiner Umgebung. Wenn möglich, verwenden wir sogar Materialien, die wir direkt vor Ort finden. Im Piemont etwa haben wir für einen Fussboden alte Terrakottaziegel und Lehm vom Grundstück selbst verwendet – das ist Nachhaltigkeit in ihrer schönsten Form.
Wie verbessern Sie die Energieeffizienz trotz struktureller Einschränkungen?
Man muss sich das Gebäude Schicht für Schicht erschliessen, bis man an den Kern gelangt. Dann kann man behutsam dämmen, optimieren – ohne die Geschichte zu verdecken. Selbst eine alte Kirche konnten wir mit Wärmepumpe, Solarpanels und Bodenheizung energetisch auf den neuesten Stand bringen.
Denken Sie Ihre Projekte immer im Sinne eines Lebenszyklus – von Bau bis Rückbau?
Unbedingt. Wir prüfen zu Beginn, was wiederverwendet, recycelt oder rückgebaut werden kann. Neue Bauteile gestalten wir möglichst demontierbar. In unserem Stampflehmhaus in England haben wir komplett auf Zement verzichtet. Das Haus könnte theoretisch wieder zu Erde werden. In einem anderen Projekt sind die Möbel und Einbauten so gestaltet, dass sie sich leicht wieder lösen und anderweitig nutzen lassen.
Was sind Ihre Strategien, um bestehende städtische Strukturen zu verdichten, ohne sie zu überfrachten?
Ein Ansatz sind „Räume in Räumen“: Wenn wir grosse Volumen zonieren, entstehen intime Bereiche, ohne das Volumen zu zerstören. In einem Mews House in London haben wir zum Beispiel würfelförmige Einbauten in den Dachraum gestellt, in denen sich Küche und Schlafzimmer befinden. Die bestehende Dachstruktur bleibt sichtbar. Ein anderer Ansatz ist die Aufwertung gemeinschaftlich genutzter Flächen oder das Umdenken von Restflächen.
Können Sie ein Beispiel nennen, das für gelungene städtische Verdichtung steht?
Das Michelberger Hotel in Berlin. Ursprünglich war das Gebäude eine alte Zigarettenfabrik. Wir haben es so umgebaut, dass daraus ein lebendiges Boutiquehotel wurde. Der Umbau war nicht nur funktional, sondern auch ein Impuls für das ganze Quartier – heute gibt es dort Restaurants, Läden und neue Wohnangebote. Verdichtung kann also auch sozial und wirtschaftlich wirksam sein.
Wie gelingt Ihnen der Balanceakt zwischen historischer Substanz und zeitgenössischer Architektur?
Indem wir das Bestehende genau studieren und versuchen, es nicht zu bewerten, sondern zu verstehen. Dann entwerfen wir Interventionen, die mit dem Alten kommunizieren – manchmal kontrastierend, manchmal ergänzend. Die Harmonie zwischen Alt und Neu entsteht, wenn beides auf Augenhöhe miteinander existieren darf.
Was meinen Sie mit „eleganter Aneignung“?
Das heisst für uns: etwas scheinbar Unscheinbares so in Szene zu setzen, dass es plötzlich Bedeutung bekommt. In einem Ski-Lodge-Projekt in der Schweiz wollten alle die braunen Asbestplatten loswerden. Wir haben sie belassen und stattdessen mit farbigen Fensterläden gearbeitet – heute sieht niemand mehr die alten Platten. Manchmal reicht ein Perspektivwechsel.
Welchen Einfluss hat das urbane bzw. ländliche Umfeld auf Ihre Entwurfsentscheidungen?
Im urbanen Raum arbeiten wir oft collageartig, nehmen Bezug auf benachbarte Materialien und Strukturen. Im ländlichen Raum ist es meist direkter: Dort verwenden wir, was die Umgebung hergibt – Stroh, Kork, Stampflehm. Die Einfachheit der Materialien bringt oft eine besondere Tiefe ins Projekt.
Wie stark binden Sie Nutzer:innen oder lokale Community ein?
Das hängt vom Projekt ab. In einem Stadterneuerungsprojekt in der Nähe von London haben wir intensiv mit der Bevölkerung gesprochen – das hat enorm geholfen, Bedürfnisse besser zu verstehen. Zudem bieten wir jährlich pro bono Architekturleistungen für soziale Einrichtungen an – zuletzt für die Renovierung einer Schulbibliothek in Nordlondon.
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, was bewahrt, verändert oder entfernt wird?
Das hängt ganz vom Gebäude ab. In einem denkmalgeschützten Haus in Andermatt war nur ein Teil der Originalsubstanz erhaltenswert – der Rest wurde entfernt, um Platz für das Neue zu schaffen. In einem anderen Projekt in Somerset war die Geschichte der Transformation genauso wichtig wie die Bausubstanz selbst. Und manchmal wird aus einem alten Dachbalken eben ein neues Möbelstück.
Welche Trends sehen Sie im Bereich des Weiterbauens?
Adaptive Reuse wird zum Standard. Wir arbeiten gerade mit einem Materialinventar – das wird sicher zur Norm. Ausserdem erwarten wir, dass demontierbare Bauweisen mehr Gewicht bekommen. Und: Die Zeit der 1970er- und 1980er-Jahre-Bauten kommt. Sie sind heute noch unterschätzt, werden aber bald als Ressource erkannt werden.
Welche Verantwortung trägt Architektur im Kontext des Klimawandels?
Eine sehr grosse. Die Baubranche ist für einen erheblichen Teil der Emissionen verantwortlich. Wir müssen zeigen, dass Nachhaltigkeit nicht Verzicht bedeutet, sondern auch Schönheit und Innovation.
Wie kann Architektur zu lebenswerten Städten beitragen?
Architektur prägt unser tägliches Erleben. Wenn wir mutig denken, können auch verlassene Orte zu lebendigen Quartieren werden – wie in King’s Cross, wo wir alte Gasometer zu Wohnungen gemacht haben. Es braucht Vision, aber auch die Bereitschaft, Bestehendes neu zu denken.
Was treibt Sie persönlich an, so konsequent auf Nachhaltigkeit, Wiederverwendung und Verdichtung zu setzen?
Ich finde es faszinierend, wie viele kleine, bewusste Entscheidungen zu etwas Grösserem führen können – zu einem Gebäude, das Geschichte erzählt und zugleich in die Zukunft weist.
Warum haben Sie ein Büro in der Schweiz eröffnet?
Wir arbeiten seit über zehn Jahren in der Region. Mit Projekten in Andermatt, dem Piemont, am Comersee oder in den österreichischen Alpen war es naheliegend, ein zweites Standbein aufzubauen. Es erlaubt uns, näher dran zu sein – und die Qualität unserer Arbeit weiter zu verbessern.
Welche Rolle spielt dabei das Bauen in den Alpen?
Die Alpen sind wunderschön – und gleichzeitig ein Ort, an dem die Klimakrise besonders sichtbar ist. Dort wird einem bewusst, dass Architektur nicht nur ästhetisch sein darf, sondern auch Verantwortung übernehmen muss. Wir wollen dazu beitragen, dass diese Landschaft nicht weiter leidet, sondern in ihrer Eigenart erhalten bleibt.
Tuckey Design Studio
Tuckey Design Studio ist ein international renommiertes Architekturbüro mit Sitz in London und einer Zweigstelle in Andermatt. Gegründet 1999 von Jonathan Tuckey, hat sich das Studio auf die kreative Umnutzung bestehender Gebäude spezialisiert. Mit einem tiefen Verständnis für die kulturellen, sozialen und emotionalen Verbindungen, die Menschen mit Bauwerken eingehen, transformiert das Team historische Strukturen durch sensible, zeitgemässe Eingriffe in nachhaltige Lebensräume .
tuckeydesign.ch